Ungeschönte, authentische, berührende und unbedingt empfehlenswerte Buchlektüre zum Thema FASD, die aufzeigt, dass Aufklärung und Veränderung verpflichtend sind

Ungeschönte, authentische, berührende und unbedingt empfehlenswerte Buchlektüre zum Thema FASD, die aufzeigt, dass Aufklärung und Veränderung verpflichtend sind

„Das hier ist kein Randphänomen der Gesellschaft. Nein. Das Fetale Alkoholsyndrom
ist mitten unter uns.“ Dagmar Elsen

mit freundlicher Genehmigung des Schulz-Kirchner Verlags GmbH zur Veröffentlichung des Vorworts und des Buchcovers


Vorwort

„Du bist doch Journalistin, schreib drüber, sonst gibt‘s immer mehr wie mich“,
sagte Luca zu mir nach seiner Diagnose im FASD-Fachzentrum Walstedde. Das
war just, nachdem der damals 14-Jährige realisiert hatte: Alkohol hat mein Hirn
zerstört als ich ein Baby war im Bauch meiner Mutter. Als er außerdem erfuhr, dass
unglaublich viele Menschen gar nicht wissen, dass Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
derart gefährlich ist. So viele, dass jede Stunde in Deutschland ein Kind
mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt. So viele, dass wir inzwischen über
1,6 Millionen Betroffene sprechen. Mindestens. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Für
Luca, der mit seinem wirklichen Namen nicht genannt werden möchte, war sofort
klar: Wüssten die Menschen darüber Bescheid, dann würden doch alle alles tun,
damit so etwas nicht weiter vorkommt. Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft
keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.
So weit, so simpel.
Ich musste nicht lange überlegen. Luca wurde zur Triebfeder einer sehr intensiven
und langen Recherchereise, die mich Woche für Woche, Monat für Monat, immer
fassungsloser machte. Zahlen, Daten, Fakten in Dimensionen, die deutlich machen:
Das hier ist kein Randphänomen der Gesellschaft. Nein. Das Fetale Alkoholsyndrom
ist mitten unter uns. Es betrifft alle – die Bankiersgattin ebenso wie die Frau
an der Kasse im Supermarkt oder die unwissentlich Schwangere. Und es geht nicht
nur die Mütter an, sondern jeden. Weil jeder wissen sollte, was der Alkohol im
Mutterleib anrichtet. Damit niemand mehr auf die Idee kommt zu behaupten, ein
Gläschen schadet nicht, der Mutterkuchen ist ein sicherer Schutzmantel. Nein, ist
er nicht. Alkohol in der Schwangerschaft ist immer gefährlich – zu jeder Zeit und
in jeder Menge!
Durch Luca, den ich aus meinem persönlichen Umfeld kenne und den ich habe
aufwachsen sehen, waren mir die Probleme und Defizite von FASD-Betroffenen
vertraut. Ich habe miterlebt, wie der hübsche, fröhliche Junge, dem man seine Behinderung
nicht im Mindesten ansieht, erst schleichend, dann immer deutlicher
begann zu straucheln. Schneller und schneller drehte sich das Rad, immer tiefer
zog es ihn in der Pubertät in den Abgrund. Es war die Hölle. Die Hölle für ihn, für
seine Familie. Kein Arzt wusste Rat. Keine Klinik stellte die richtige Diagnose. Alle
meinten, na ja, das Drama wird der Adoption geschuldet sein. Dann ein Tipp, ein
Zufall, über eine Bekannte, die der Adoptivmutter die Aufnahme in der Kinderund
Jugendklinik Walstedde empfahl.
Es hat mich mit Entsetzen erfüllt, dass weder ein Kinderarzt, noch ein Ergotherapeut,
Psychologe, Psychiater, Lehrer, Erzieher, eben niemand auf die Idee gekommen
ist, der Junge könnte fetale Alkoholschäden haben. Das, obwohl Luca einer
von tausenden typischen Fällen ist – körperlich unauffällig, mit durchschnittlichem
Intelligenzquotienten, aber kognitiv stark defizitär, ebenso in den Exekutivfunktionen,
orientierungslos, ohne Zeitgefühl, Mathe ist ihm ein Gräuel, seine unkontrollierten
Wutanfälle legendär.
Warum nur ist dieses Syndrom so unbekannt, fragte ich mich. Ich forschte im Internet,
las alles, was ich kriegen konnte. Ich interviewte auf dem Gebiet der fetalen
Alkoholschäden renommierte – ja, es gibt sie, wenige, aber doch! – Ärzte, Psychologen,
Therapeuten, FASD-Fachberater. Ich sprach mit Eltern, mit leiblichen, Pflege-
und Adoptiveltern, sprach mit erwachsenen Betroffenen. Sie erzählten stets
atemlos und aufgebracht. Allesamt waren es aufwühlende Geschichten, die das
facettenreiche, fatale Ausmaß der von unserer Gesellschaft vertuschten Thematik
offenbarte. Die schlimmste Geschichte von allen war die von Max. Sie bricht einem
das Herz. Ein Kind von elf Jahren hält die Pein des Lebens nicht mehr aus und begeht
Selbstmord. Es ist der blanke Horror.
Schockiert hat mich bei meiner Recherche obendrein, wie sehr Ängste vorherrschten
offen zu reden, sich selbst zu benennen und die Personen und Ämter, die maßgeblich
an den vielschichtigen Missständen beteiligt sind, weil nicht sein kann, was
nicht sein darf. FASD, das gibt es hier nicht. Hokuspokus. Modediagnose. Lassen
die Pflegeeltern nicht locker, zeigen auf, was mit ihren Kindern los ist, fordern Hilfe
und Unterstützung ein, müssen sie darum fürchten, dass ihnen die Kinder wieder
weggenommen werden. Eine bedrückende Tatsache. Bitte uns im Text anonymisieren,
hieß es deshalb auch immer wieder. Ein weiterer Grund für den Wunsch nach
Anonymität, der einmal mehr die Gesinnung unserer ach so integrativen Gesellschaft
offenlegt: die Sorge, stigmatisiert und gesellschaftlich isoliert zu werden.
Drei Jahre liegen nun hinter mir, seit ich mich intensiv mit FASD auseinandergesetzt
habe. Eine lange Zeit. Aber viel Zeit ist notwendig, um zu erfassen und zu
verstehen. Nicht nur das Syndrom an sich ist so komplex in seinem Erscheinungsbild
und seinen Auswirkungen. Es stellt das ganze Leben der Betroffenen und ihrer
Familien und Freunde auf den Kopf. Wie sagt Luca immer so schön: „Ich bin kein
normaler Behinderter.“ Was er damit meint, versteht man, wenn man all die Geschichten
dieser besonderen Menschen gelesen hat.
Die Recherchen haben aber glücklicherweise nicht nur die dunklen Seiten des Syndroms
offenbart. Immer mehr kämpferische Menschen stehen auf, trauen sich ihre
Rechte zu benennen und einzufordern, erheben die Stimme und gehen an die
Öffentlichkeit. Und wenn sie es geschafft haben, die Unterstützung zu erhalten,
die ihnen zusteht, zeigt sich sofort, dass das Leben für Menschen mit fetalen Al-
koholschäden einen ganz anderen, einen so positiven Verlauf nehmen kann. Es
muss den Eltern, ihren Kindern, den erwachsenen Betroffenen lediglich die Chance
darauf gewährt werden. Schließlich ist es eine Chance, die rechtlich verbrieft ist.
Ich danke von Herzen allen, die es mir möglich gemacht haben, dieses Buch zu
schreiben. Die Offenheit und das Vertrauen, das mir dafür geschenkt wurde, haben
mich sehr berührt. Viele Tränen sind bei den Gesprächen geflossen. Vor Kummer,
vor Sorge, vor Wut und Angst, aber auch vor Freude und, das ist besonders schön,
vor lauter Lachen. Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind grundsätzlich
sehr humorvolle, ausgestattet mit einer ganz anderen Logik im Kopf, die zu
den lustigsten Anekdoten führt. Sie sind von rührender Naivität und einer großen
Herzenswärme. Sie leben im Hier und Jetzt. Und das macht sie beneidenswert unbekümmert.
Herzlich
Dagmar Elsen

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Paul

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